Die parallele Ausstellung von Muriel Stern und Franz Wanner lädt zur Reflexion über Malerei, Form und Inhalt ein. Mit Wanners Bezug auf Giovanni Segantini (1858-1899) lässt sich sogar sagen, dass sich der Künstlerkreis um einen Maler erweitert.
Im Erdgeschoss zeigen die Gemälde von Muriel Stern Objekte und Situationen aus dem Alltag. Damit lenken die Innen- und Aussenansichten die Aufmerksamkeit ihrer Betrachter auf das ansonsten Unbeachtete. Um die Unmittelbarkeit ihrer Sujets einzufangen, malt Stern gelegentlich direkt vor Ort. Dabei ist die Erfahrung der gegebenen und sich über eine Zeitspanne verändernden Lichtverhältnisse und ihre Umsetzung in die Malerei für Sterns Schaffen prägend. Das Gewirk aus Farben und Formen erzeugt eine Sehweise, die sich ständig zwischen der Betrachtung des Dargestellten und der Wahrnehmung der Materialität verschiebt.
Im Obergeschoss befinden sich drei grossformatige Gemälde von Franz Wanner. Die "Coelin", "Umbra" und "Ocker" benannten Bilder beziehen sich auf Segantinis berühmtes Alpentriptychon "La vita – la natura – la morte", dessen genauen Masse Wanner übernommen hat. Das Interesse Wanners an grundsätzlichen Fragen des menschlichen Seins, beeinflusst unweigerlich die Position, die er seiner Arbeit zuweist. Als künstlerische Haltung wählt er keine eigenen Sujets, sondern arbeitet stets mit Bezug zur Kunstgeschichte und anderen Künstlern. Auf seiner Leinwand entfaltet sich eine spannungsgeladene Dualität zwischen dem tatsächlichen Material und dem immateriellen Werkinhalt, der dabei die wichtigere Position einnimmt. Denn Wanners Bildträger ist stets auch ein Ideenträger, der das Konkrete mit dem Abstrakten in eine fruchtbare Verbindung zu bringen sucht.
Im Dachstock rundet eine Installation von Muriel Stern die Auss
tellung ab. Bahnen aus bunten Plastiksäcken hängen wie an einer Wäscheleine im Raum. Auf ihnen sind kaum lesbare Zitate von Juli Zeh aus "Die Stille ist ein Geräusch" gedruckt. Darauf werden Aussenaufnahmen projiziert. Das Zusammentreffen der bunten Bahnen mit den Lichtbildern bewirkt eine Verschmelzung von Bild und Projektionsfläche und die vorhandenen Strukturen von Plastiksäcken und Bildmotiven werden aufgehoben. Die Grenze zwischen Innen und Aussen, und damit auch zwischen Intimem und Öffentlichem, aber auch die Grenze zwischen Bekanntem und Fremden verschwimmt – und wird in Frage gestellt.
Äusserlich betrachtet, weisen die Werke Sterns, Wanners und Segantinis überraschende Ähnlichkeiten auf. Die Betonung der Fläche wie des Lichts findet sich in Sterns diffus-fleckigem Farbauftrag, in Wanners grobem Pinselstrich auf flächigem Farbhintergrund sowie in Segantinis mit Öl auf Leinwand erschaffenem "Flächengewebe" (Wanner). Es scheint daher nicht ganz zufällig, dass sich Analogien in den Arbeitsweisen der Künstler finden. Bei Segantini sowie bei Stern ist die Malerei en plein air, also unter freiem Himmel und mit natürlichem Licht, wesentlich. Daneben dient die Fotokamera Stern heute wie Segantini vor hundert Jahren als technisches Hilfsmittel, um Perspektive und Ausschnitt des Bildes zu konstruieren.
Inhaltlich ist damit eine wichtige Frage der Malerei angesprochen, welche sich nach dem Verhältnis zwischen Realität und Abbild erkundigt. So trägt die Ausstellung den Titel "I miei modelli", welcher sich auf ein gleichnamiges Werk Segantinis bezieht. Auf diesem Gemälde aus dem Jahr 1888 hat Segantini zwei seiner Modelle dargestellt, die sich in einer seiner Malereien selbst betrachten. Obwohl sich bei Segantini, Stern und Wanner die Wahl des Modells selbst unterscheidet, ist ihnen die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und deren Darstellung gemeinsam. Die Künstler suchen durch ihr Werk zu erkennen, was das menschliche Leben in seinen Grundsätzen bestimmt. Es ist ein philosophischer Diskurs, mit malerischen Mitteln geführt.
Text: Meredith Stadler
Bilder: Ralph Kühne