30.8.-20.10.2024

In ihrer künstlerischen Praxis setzt sich Nathalie Bissig (*1981 im Kanton Uri; wohnt und arbeitet in Zürich, Uri, Tessin) mit dem eigenen Lebensraum auseinander. Immer wieder greift sie Elemente aus Brauchtümern, Ritualen und mythologische Erzählungen auf. Archaisch und geheimnisvoll anmutend erinnern ihre Werke an die Kraft und Gewalt der uns umgebenden Natur und damit einhergehend auch an Ängste vor dem Ungewissen und nicht Berechenbaren.

Nur wenig Licht dringt durch die Fenster – sie sind verschlossen oder verspiegelt und sorgen für eine bewusste Trennung von Aussenraum und Innenleben. Spärlich ist auch die Beleuchtung im Benzeholz selbst. So ist es der Zustand des Eindunkelns, den Nathalie Bissig mit „Ninna Nanna“ aufgreift: Aus dem Italienischen lässt sich der Ausstellungstitel mit Wiegelied übersetzen, auch bekannt als Gutenachtlied. Dieses wird vorwiegend von Erwachsenen vorgesungen, um Kinder abends beruhigt und mit guten Gedanken in den Schlaf zu wiegen. Mit dem Ritual einher geht aber auch der Moment des Zusammentreffens einer oft rational geprägten Erwachsenenwelt mit der kindlichen Fantasie. Wenn die Umrisse während der Dämmerung langsam verschwinden, gewinnt unsere individuelle Vorstellungskraft vermehrt an Bedeutung. Und so entführt uns Nathalie Bissig im Benzeholz auch in Zwischenwelten, wo Gespenstisches und Wundersames koexistieren.

Erdgeschoss
Wo endet die Gewissheit und wann beginnt das Unheimliche? Eine Frage, der sich Nathalie Bissig u.a. in ihren Zeichnungen widmet. Diese entstehen intuitiv, spontan und meist in Serien. Mit einfachen Strichen bringt die Künstlerin damit "Geister der Nacht" zum Erwachen und gibt insbesondere dem transformativen Moment einen Ausdruck: Die Umrisse zeigen Körper, welche ineinander verschmelzen und zwischen humorvoll und schauerlich umhermäandern. In knalliger Farbigkeit blicken uns weiter Fratzen entgegen. Sie entstanden mit Hilfe einer alten Marmorierungstechnik, wurden abgelichtet, vergrössert und hinter Glas gedruckt. Mickey Mouse-Ohren, ein Band mit Glitzerfäden und mit Stroh gefüllte Kegel: Eine Assemblage von Objekten auf drei Ebenen zeigt Formen und Requisiten, die Nathalie Bissig in den Zeichnungen wie auch in ihrem fotografischen Werk immer wieder aufgreift.

Obergeschoss
Die s/w-Serie „The wolves where so bold that they carried away a fresh bearskin that was lying by the fire“ nimmt die Besucher:innen mit auf eine Expedition in eine verlassen anmutende Landschaft. Wie in einem Traum tauchen darin Figuren und Fragmente auf, welche vertraut erscheinen und dennoch rätselhaft bleiben. Als Ausgangslage diente der Künstlerin die Bildsprache von Sagen und Legenden aus dem Alpenraum. Diese entstanden vorwiegend für die Gemeinschaftsbildung und damit für den Zusammenhalt von Menschen, um mit dem Unheimlichen und den gefährlich anmutenden Lebens-umständen einen Umgang zu finden. Der Titel der Serie mag den Beginn einer möglichen Erzählung implizieren. Mit dem Wolf findet weiter ein dämmerungs- und nachtaktives Tier Erwähnung, welches insbesondere in mythologischen Erzählungen oft eine zwieträchtige Rolle zugeschrieben bekommt und mit Bedrohung assoziiert wird.
Den fotografischen Prozess gestaltete die Künstlerin in Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Kindern aus den Kantonen Uri und Tessin, wobei sie die Kostüme und Masken eigens dafür anfertigte. Das Projekt, welches 2021 seinen Anfang nahm, findet im Benzeholz einen Abschluss. 

Dachgeschoss
Zu Beginn weg hat das Ausstellungshaus am See die Künstlerin an ein Puppenhaus erinnert. Die Figuren eines Puppenhauses dienen bestimmt dem unbefangenen Spiel – sie zeugen aber auch vom Versuch unsere Realität 1:1 abzubilden. Doch je mehr sich Puppen unserem Wesen annähern und wir in den leblosen Gestalten eine Art Existenz zu erkennen versuchen, umso unheimlicher mögen sie erscheinen. Die Ambivalenz des Puppenhauses wird im Dachstock des Benzeholz verdeutlicht. Die Installation erinnert an eine Situation im Estrich, wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wird. Auf ein Leintuch projiziert ist hier ein bewegtes Schaukelpferd zu erkennen. Dieses wird nicht geritten, sondern bringt sich doppelköpfig und mit grossen Pranken versehen selbst ins Kippen. Auffallend ist auch der Sound, den Maria S. Honegger für die Arbeit komponierte. Wie ein Grundrauschen erstreckt er sich im Raum, lässt ihn atmen und erweckt ihn damit zum Leben. Und so schwenkt das Schaukelpferd knarrend und knisternd von links nach rechts - wirkt dabei lebendig und versteift zugleich.

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Text: Katrin Sperry
Fotos: Ralph Kühne