Im Zentrum der Einzelausstellung von Katrin Keller (*1985, lebt und arbeitet in Luzern) stehen Werke, die aus einer künstlerisch forschenden Auseinandersetzung mit dem Thema Instabilität entstanden sind. Insbesondere seit ihrem Atelieraufenthalt in Island (2017) beschäftigt sich die Künstlerin vermehrt mit geologischen Prozessen, die sich auf der Erdoberfläche bemerkbar machen. Der Erdboden - als eine vermeintlich stabile, sich tatsächlich aber ständig bewegende Basis - fungiert als ein wiederkehrendes Motiv in ihrem Schaffen. Darauf aufbauend adressieren die Arbeiten im Benzeholz Fragen nach Kontrolle und deren Verlust, Fragilität, Bewegung und prekärem Stillstand. Mit dem Titel «Grounded unrest» (begründete, geerdete oder grundlegende Unruhe) wird einer ständigen Unbeständigkeit Nachdruck verliehen. Der Titel kann als Metapher für die mit unserem Leben einhergehenden Unsicherheiten verstanden werden.
Aussenbereich
Seit 2020 tauchen Pylonen in Katrin Kellers Arbeiten auf. Den kegelförmigen Verkehrszeichen begegnen wir nahezu täglich. Als Alarmsignale deuten sie darauf hin, sich achtsam zu bewegen oder einen Ort zu umgehen. In der Installation «pylons on pause» sind die Elemente um 90 Grad gekippt in einem Kreis arrangiert und damit von ihrer eigentlichen Funktion entkoppelt. Mit dem Einsatz von Pylonen verweist Katrin Keller auf unseren Umgang mit Prozessen der Veränderung und Transformation. Vor dem Eingang des Benzeholz verweisen sie auch auf die vielen Baustellen in der Welt und im Leben.
Erdgeschoss
Die Frage nach Bodenhaftigkeit spielt in die Videoprojektion mit dem Titel «T 00:08:25:03» mit ein. Zu sehen ist eine Landschaft, die sich durch eine künstliche Erschütterung formt, verändert und für wenige Sekunden zum Stillstand kommt – analog zu einem Erdbeben, welches sich durch die plötzliche Freisetzung von Energie im Erdinnern auf die Erdoberfläche überträgt und diese umschlägt. Die Vorstellung eines festen, stabilen Bodens im Ruhestand wird durch das Wissen destabilisiert, dass es sich um eine Aufnahme von bewegter Flüssigfarbe handelt. Während der Buchstabe «T» im Titel das Formelzeichen einer Periodendauer aufgreift, steht die Farbe Rot für die seismographischen Darstellungen von Erdbebenwellen. Durch die wohl wichtigste Signalfarbe strahlt die Arbeit ein Gefühl von vorherrschender Dringlichkeit aus. Die Fotografie «encounter at a standstill» entstand aufgrund einer Recherchearbeit im rutsch- und felssturzgefährdeten Gebiet in der Zentralschweiz. Das Zusammentreffen zweier Formen des Versuchs innezuhalten (oder Mensch und Fels ruhig zu halten) ist als Kommentar in der Ausstellung zu lesen. Weiter tauchen hier Aspekte von Zeitlichkeit auf: Wie lange hält die Betonkonstruktion die Felswand? Werden wir Menschen so lange da sein oder überdauert uns gar die Sitzbank?
Obergeschoss
Heute wissen wir, dass der Erdmittelpunkt in 6400 Kilometer Tiefe liegt. Ihn mit aktuellen Techniken zu erreichen ist unmöglich. Um an Daten zu gelangen untersuchen Forscher:innen u.a. Lava oder Erdbebenwellen. Im steten Bemühen nach Visualisierungen entstehen jeweils sehr unterschiedliche Abbildungen. Dies lässt Fragen nach Wissensgenerierung, Behauptungen und Pseudorealitäten aufkommen. Daran knüpfen die Zeichnungen im Obergeschoss an. Während das Erdinnere meist anhand einer Kugel mit herausgeschnittenem Schnitz dargestellt wird, widmet sich Katrin Keller in akribischer Manier jenem fehlenden Stück. Mit Bleistift auf Papier fokussieren ihre Studien auf die Andersartigkeiten in Struktur und Aufbau der wissenschaftlichen Darstellungen. Gleichzeitig greift Keller auf eine traditionelle Gestaltungstechniken zurück, mit welcher didaktische Visualisierungen von abstrakten Inhalten verdeutlicht werden.
An die Idee der «Schnitze» anknüpfend, stehen die Zeichnungen Kontaktaufnahmen von halbierten Früchten gegenüber, welche mitunter formale Ähnlichkeiten aufweisen. Während davon drei wie Anschauungstafeln an der Wand anlehnen, steht das hängende Bild als Behauptung im Raum.
Auf dem Boden sind Objekte mit kreisförmigen Platten ausgelegt, deren Optik mineralische Oberflächen täuschend echt nachahmen. Ihre Formen erinnern an Balance Bords und damit an Sportgeräte, die zur Stärkung jener Muskulatur dienen, welche uns hilft auf instabilem Untergrund das Gleichgewicht zu halten. Aufgerichtet, kollidiert oder umgestürzt mögen sie an (gescheiterte) Balanceversuche denken lassen.
In ihrer Gesamtheit steht die dreiteilige Werkgruppe mit dem Titel «Reports from within» als Analogie für Unsicherheitsmomente in einer von Wissenschaftserkenntnissen geprägten Welt, in der es keine richtigen Antworten zu finden gibt.
Dachgeschoss
Die schwierigste Aufgabe einer:s Einradfahrers:in ist der Stillstand. Auf der Schulanlage Hofmatt in Meggen gefilmt zeugt die Videoinstallation im Dachstock von diesem Versuch. Entstanden ist ein endloser Balanceakt. Dazu ist ein Sound aus mit Geophonen[1] aufgenommen und digital veränderten Klängen zu hören. Mit dem Titel «The labor of keeping still» betont Keller erneut die Arbeit als einen physisch zu erbringenden Effort. Der Wunsch nach Stillstand kann in diesem Sinne auch als Bedürfnis nach dessen Gegenteil – nach Ruhe und Erholung - verstanden werden. In der wiederkehrenden Bemühung steckt unweigerlich ein Sisyphos-Moment. Doch Katrin Keller lässt auch eine versöhnliche Geste erahnen: So steht die Artistin während des endlosen Balanceakts mit ihren Füssen gleichwohl stets auf einem angedeuteten, stabilen Horizont.
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Link Bericht Kunstbulletin
Text: Katrin Sperry
Bilder: Ralph Kühne
[1] Geophone dienen dazu Bodenschwingungen zu erfassen.