Der Begriff «Virtualität» führt auf den französischen Ausdruck «virtuel» (fähig zu wirken, möglich) zurück, welcher wiederum aus dem Lateinischen «virtus» stammt und für Tugend, Tapferkeit oder Kraft steht. Im Deutschen beschreibt Virtualität die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu sein scheint, sich jedoch in ihrer Erscheinung und Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.
Gerade die Technologie der virtuellen Realität, kurz VR genannt, schafft es, uns mit mehreren Sinnen in eine scheinbare Wirklichkeit zu entführen, indem eine computergenerierte, interaktive virtuelle Welt in unsere tatsächliche Realität miteinfliesst. Virtualität bezeichnet somit auch einen Möglichkeits-raum, der uns mit Fragen nach realen Verhältnissen, Fakten und persönlicher Wahrnehmung konfrontiert.
Im Titel der Ausstellung von Sebastian Utzni (*1981, lebt und arbeitet in Zürich und Luzern) steht das Virtuelle jedoch in Klammer und das Wort Realität überführt der Künstler weiter in den Plural: «(Virtual) Realities» steht für eine Vielfalt von parallel existierenden Realitäten, wobei die Grenzen zwischen einer physisch greifbaren, unmittelbaren Erfahrung und einer denkbaren, imaginierten Welt verschwinden. Und so verbindet der Künstler in der Ausstellung das Weltgeschehen mit unserer unmittelbaren Umgebung und überführt Zukunftsvisionen in die Gegenwart: Er lädt uns ein, uns mit den Auswirkungen des eigenen Handelns auseinanderzusetzen.
Erdgeschoss – Sprachlosigkeit
Die projizierten Bilder mögen erst an eine Science-Fiction-Szene erinnern – auf einem menschenleeren Gelände werden architektonische Gebilde ins Surreale überführt. Sind die Gebäude noch im Aufbau oder wurden sie bereits verlassen? Nur vereinzelt verweisen Geräusche wie ein anfahrendes Auto, ein Hämmern im Hintergrund oder Windstösse auf ein real existierendes Setting. Der Drehort, den sich Sebastian Utzni ausgesucht hat, ist keine künstliche Filmkulisse, sondern die Kleinstadt Gibellina Nuova auf Sizilien.
Die Videoarbeit mit dem Titel «ἀφασία» (Aphasia, Sprachlosigkeit) konzipierte der Künstler in Zusammenarbeit mit den Tänzer*innen Riikka Läser und Ivo Bärtsch. Als Ausgangslage diente dabei die immer stärker werdende Gewissheit, dass Vorstellungen und Utopien in einer Welt, die von Macht, Rassismus, Ungerechtigkeiten oder Gewalt dominiert wird, allmählich zerbröckeln. Das Video beschäftigt sich mit dem daraus resultierenden Gefühl von Sprachlosigkeit – dem nicht mehr sprechen können, wollen oder nicht die richtigen Worte finden.
Historisch gesehen fungiert Gibellina Nuova als Ersatz für das einstige Gibellina, das 1968 aufgrund eines Erdbebens zerstört wurde. Heute weist die Kleinstadt weltweit die höchste Dichte an Kunst im öffentlichen Raum auf. Doch was fehlt sind die Menschen. Statt 20‘000 leben dort nicht einmal mehr 4‘000 Personen und einst ambitioniert geplante Bauten und Objekte erinnern an eine sprachlose virtuelle Realität, in der sich die Wege ins Unendliche zu dehnen scheinen. Innerhalb dieses Settings versuchen die beiden Tänzer*innen dem Gefühl von Sprachlosigkeit auf poetische Weise einen Ausdruck zu geben, indem sie mit ihren Körpern den Ort entdecken. Im Bemühen die Gebäude und Konstruktionen sinnhaft zu nutzen, entstehen jedoch absurd anmutende Bewegungen – die Sprache der Körper scheint nicht mit der Sprache der Architektur vereinbar zu sein.
Obergeschoss - Schattenwürfe
Während die im Film gezeigten Gebäude einen monumentalen Charakter aufweisen, rückt im Obergeschoss das Konzept eines Monuments an sich in den Fokus. Meist in Form einer Steinskulptur zeugen diese nicht nur von einem historischen Ereignis – vielmehr verweisen sie in ihrer Funktion auch auf die Gegenwart und Zukunft: Mit festem Material für eine mögliche Ewigkeit erschaffen, repräsentieren sie eine Gedenktradition, zeugen von einer mythologischen Aufladung von Schlachten und Feldzügen sowie von der heutigen Selbst-wahrnehmung und Verortung innerhalb der erzählten Geschichte. So unverrückbar die steinernen Monumente erscheinen, so verrückbar ist also ihr Inhalt und die damit einhergehende Identitätsstiftung.
Die Schweiz ist für ihre sogenannte Neutralität bekannt. Gleichwohl lassen sich auf ihrem Boden über 1000 Denkmäler mit militärischem Hintergrund finden, wie «INVENTARIO – das Inventar der Armee- und Kriegsdenkmäler der Schweiz» auf der Website der Schweizerischen Eidgenossenschaft, aufzeigt. Darauf veröffentlicht sind vielfältige Gedenkorte, die in aufwendiger Aufbereitung sowohl auf Dorfplätzen oder Strassenkreuzungen als auch in dichten Wäldern oder abgelegenen Mooren aufgespürt wurden. Als Erinnerungszeichen verweisen sie auf historische Schlachten und Aktivdienste.
Im Rahmen der Ausstellung interessiert sich Sebastian Utzni insbesondere für Militärdenkmäler in der Innerschweiz, rund um Meggen – und davon gibt es viele: Über die Region Luzern bekannt ist bestimmt das Löwendenkmal, der Schillerstein oder die Tellskapelle am Vierwaldstättersee. Auf seiner Suche hält der Künstler die Monumente mit der Lochkamera fest. Mit einer bewussten Konzentration auf deren Schattenwürfe und der daraus resultierenden, geisterhaft anmutenden Abstraktion rückt er weiter bewusst deren Symbolhaftigkeit in den Fokus: In der Serie «conticuere omn» zeigen die Fotografien nunmehr auf, dass das Weltgeschehen immer auch an unsere unmittelbare Umgebung geknüpft ist.
Dachstock – Zurück in die Zukunft
Der Begriff «Virtual Reality» soll im Jahr 1982 erstmals in einem Roman des Science-Fiction Autors Damien Broderick genannt worden sein. Als Genre beinhaltet Science-Fiction Erzählungen, welche auf eine Zukunft der Menschheit verweisen, die oft mit umwälzenden Entwicklungen einhergeht. Im Dachstock ist mit der Installation «Possible Futures» eine Ansammlung von appropriierten Versatzstücken aus der Popkultur zu sehen, die sich alle auf das Jahr 2023 beziehen. Auf Monitoren zeigen sie als Ensemble die Verquickung zwischen Unterhaltungsindustrie und gesellschaftlichen und politischen Phänomenen auf. Damit führt uns Sebastian Utzni unsere selbst geschaffenen Bildwelten sowohl als Spiegel wie auch als Orakel vor Augen. Wie steht das binäre gut/böse Denken der Unterhaltungsindustrie mit der komplexen Realität in Verbindung? Wie prägt oder beeinflusst diese unsere Lesart aktueller Ereignisse? Dies sind Fragen, die der Künstler zur Diskussion in den Raum stellt.
Sowohl in Science-Fiction wie auch in Denkmäler sind aktuelle Visionen, Prägungen, Erfahrungen und Gefühlslagen fester Bestandteil. In der heutigen hyperkomplexen Welt, in der nichts mehr linear erklärbar zu sein scheint und die digitale und analoge Welt ineinanderfliessen, zeugen sie auch vom menschlichen Bedürfnis Vergangenheit wie Zukunft nicht nur zu verstehen, sondern ein Stück weit auch zu kontrollieren oder zu beeinflussen. Doch die Geschichtsschreibung selbst passiert im Jetzt.
Download Flyer
Download Bericht Kunstbulletin
Text: Katrin Sperry
Bilder: Ralph Kühne