Die Ausstellung von Lukas Geisseler und Christoph Oertli nimmt sich der Flüchtigkeit und Offenheit unserer Gesellschaft an. Wie durchlässig sind die Grenzen zwischen Ich und Du? Wie global ist das Internet? Wo befinden wir uns? Wie entsteht Identität? Wie weit reicht unsere Umgebung? Die beiden Künstler gehören zwei Generationen an und gehen mit unterschiedlichen Mitteln gesellschaftliche Themen an. Christoph Oertli hat Anfang der 1990er Jahre an der Hochschule Basel die Videofachklasse abgeschlossen. Seither ist er stets mit der Kamera den Menschen auf der Spur und dies auf verschiedenen Kontinenten. Lukas Geisseler hat erst vor zwei Jahren seinen Master in Fine Arts an der Hochschule Luzern abgeschlossen. Er befragt auf konzeptuelle Weise gesellschaftliche oder politische Systeme.
Lukas Geisseler (* 1985, lebt in Kriens und Luzern) interessiert sich für gesellschaftspolitische Dimensionen. Statistiken, Interviews und Objekte bilden die Grundlage für seine auf Recherchen basierenden Werken. Oder er trifft sich mit Leuten zur Trink-Theke, um Themen der Kunstproduktion oder der Kulturpolitik zu diskutieren. Inspiriert von der Art & Language Group der 1970er Jahre oder den Zeichnungen Mark Lombardis entwickelt er Rauminstallationen mit Readymades oder filigranen Zeichnungen, welche gesellschaftliche und politische Systeme visualisieren.
Für die Ausstellung im Benzeholz hat Lukas Geisseler basierend auf Lexika-Artikel zum Begriff «Welt» eine Serie von grossformatigen Zeichnungen entworfen. In feinen Bleistiftstrichen kopiert er den Text, arrangiert ihn aber in Form eines Kreises. Je nachdem wie knapp oder weitreichend die Erläuterungen ausfallen, bilden sich auf formaler Ebene kleine und grosse Welten. Auf inhaltlicher Ebene entstehen amüsante Verschiebungen im Nebeneinander der verschiedenen Perspektiven auf die Welt. Demgegenüber steht eine Projektion, die in Echtzeit Daten aus der Plattform Twitter zum Begriffsfeld «Welt» filtert und über ein Programm in Bilder umwandelt. Diese aus dem aktuellen Sprachgebrauch gefilterten und visuell dargestellten Systeme stehen den offiziellen, in Lexika gedruckten Definitionen gegenüber.
Die Videoarbeiten von Christoph Oertli (* 1962, lebt in Basel) zeichnen sich durch ihre Nähe zum Menschen und dessen Verhältnis zum Umfeld aus. Die Architektur oder Stadtlandschaft wird dabei zur Bühne. Über die Bewegung der Protagonisten im Raum oder innerhalb einer Gruppe von Menschen werden psychologische und kulturanthropologische Dimensionen zum Thema.
Im Benzeholz zeigt Christoph Oertli die Videoprojektion «Ethiopian Run» von 2015. Dort bewegt sich eine Gruppe junger Äthiopier in einem lichtdurchfluteten Foyer eines modernen Gebäudes mit Stützpfeilern. Die Kameraaufnahmen wechseln zwischen der Gruppe und dem Einzelnen, sodass aus der Homogenität von Köpfen mit gekringeltem Haar nach und nach Gesichter und Individuen hervortreten. Die Architektur des Gebäudes und die Leere des Raumes geben keinerlei Hinweis, wo die Szene stattfindet. Die Schwebe zwischen hier und dort, zwischen Gruppe und Individuum trifft unsere Wahrnehmung, deckt Vorurteile auf, mit denen wir täglich konfrontiert sind und die es lohnt immer wieder zu hinterfragen.
Ausserdem zeigt Christoph Oertli zwei weitere Videoarbeiten: In «Tension Box» wechseln Szenen aus einem Dormitory der Universität in Addis Abeba, welche die Dichte und Enge des Raumes zeigen, und Statements von zwei Studenten zu ihren Erfahrungen mit der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in Äthiopien einander ab. In «Gare du Nord» von 2017 stehen sich zwei Kamerafahrten durch die Gleishalle gegenüber: Vereinzelt stehen Personen auf dem Bahnsteig oder sitzen auf Wartebänken, Durchsagen erklingen. Die beinahe Leere steht im Gegensatz zum permanenten Kommen und Gehen von Zügen und Menschen an diesem Ort. Gleichzeitig entstehen räumliche Überlagerungen durch die ungewöhnliche Sicht und offene Weite.
Text: Annamira Jochim
Bilder: Ralph Kühne