Die Ausstellung «Seh Meer» von Judith Albert und Angela Wüst greift die Lage des Ausstellungshauses am See mit Blick in die Berge auf. Die pittoreske Landschaft erzeugt den Wunsch nach mehr See, mehr Wildnis oder mehr Weite. Was wäre, wenn hier das Meer beginnen würde oder wenn der Wasserspiegel steigt?
Die Videokünstlerinnen nehmen Realität und Wunschdenken auf und erzeugen mittels Projektionen vielschichtige Bildwelten. Dafür greifen sie Bilder aus ihrem Umfeld, aus Kunstgeschichte und Medienwelt auf und überlagern diese. Das Verrücken als Öffnen der Wahrnehmung des Alltags auf etwas anderes hin, geschieht in den Werken der beiden Künstlerinnen auf je unterschiedliche Weise.
In den Videoarbeiten von Judith Albert (*1969 in Sarnen, lebt in Zürich), der diesjährigen Kunstpreisträgerin der Zentralschweiz, ist das Wasser ein zentrales Thema. Als fliessendes Element birgt es einerseits Potential zur Veränderung. Andererseits wird das Wasser als durchsichtige Materie zum Spiegel zwischen Innen und Aussen. In «mare mosso» von 2015 balanciert die Künstlerin im Videobild auf der Linie zwischen Land und Wasser. Die menschliche Figur wird gelegentlich von einer Welle erfasst und taucht wieder auf. Die hohen Wogen der See verbinden sich mit der Sehnsucht nach Weite, bergen aber auch eine gewisse Unberechenbarkeit. Sie haben die Kraft, Dinge auftauchen zu lassen als auch wegzuspülen und zum Verschwinden zu bringen. Das bildhafte Eindringen des Wassers im Erdgeschoss vom Benzeholz lässt den Ausstellungsraum selbst zum Ort des Gedächtnisses werden, wo Erinnern und Vergessen sich abwechseln. Geleitet vom Ton dringt der Ausstellungsbesucher in die Tiefen des Bewusstseins vor.
Im Dachgeschoss zeigt die Künstlerin Projektionen, in welchen sie mit ihrem Körper durch Skalierung und Abstraktion Landschaftsbilder evoziert. So bildet beispielsweise die Linie ihrer bei den Fingerspitzen zusammengeführten Arme die Silhouette eines Hügelzugs oder die Hand wird unter Wasser zum Fels im Schneegestöber.
Stehen in Judith Alberts Videoinstallationen der menschliche Körper und das organisch Gewachsene im Vordergrund, entwirft die fast zwanzig Jahre jüngere, in Luzern aufgewachsene Angela Wüst (* 1986 in London, lebt in Zürich) Rauminstallationen aus architektonischen Bildern, aus Licht und Projektionen. Aus den skulpturalen Architekturteilen entsteht eine Stadtlandschaft, die aber nicht als Ganzes lesbar ist. Die Dimensionen der architektonischen Objekte und deren Ausrichtung lassen sich keinem Raumsystem zuordnen. Die Installation entzieht uns den Boden: die Objekte scheinen im Lichtfluss oder gar im Hochwasser zu versinken. Der sich über die Wand entlang ausbreitende Lichtbalken skizziert einen Horizont, dessen marginale Bewegung uns in einen Schwebezustand versetzt. Wir tauchen in einen polyperspektivischen Raum ein und werden sowohl physisch als auch mental mit verschiedenen Welten konfrontiert.
Ebenso vermitteln die Screenshots der Google-Earth-Reise von Meggen zum Mittelmeer einen prekären Zustand: hinter den Felsen öffnen sich Leerräume, welche die Möglichkeiten und Grenzen räumlicher Darstellung aufzeigen. Wie die Künstlerin auf ihrer virtuellen Reise im Netz ihre neuesten Fotografien findet, fokussieren wir beim Durchwandern ihrer Installationen immer wieder neue Blickwinkel und Bildausschnitte.
So unterschiedlich die Bildsprache der beiden Künstlerinnen ist, verbindet ihre Werke das Spiel mit Dimensionen und raum-zeitlichen Verschiebungen. Durch die Abstraktion und das Herauslösen aus gewohnten Bezügen erzeugen sie Modelle möglicher Weltbilder.Text: Annamira Jochim
Bilder: Ralph Kühne